Buch

Die Wildnis beginnt im Kopf

Als am 1. August 1914 der Schweizerische Nationalpark eröffnet wurde, hatten findige Städter eine Gelegenheit beim Schopf gepackt und verkaufswilligen alpinen Gemeinden ein grosses Stück Land abgekauft, das diese nicht mehr zu nutzen gedachten. Und auch wenn der Rückzug des Menschen aus den entlegenen alpinen Gebieten vor allem in jüngster Zeit unaufhaltsam fortschreitet, so ist die ländliche Bevölkerung für ähnliche Deals nicht mehr bereit, Hand zu bieten. Sowohl Erweiterungspläne für den Nationalpark als auch die Neugründungen von Nationalparks hatten an den Urnen keine Chance. Die Bereitschaft zur Nutzungsaufgabe, selbst wenn diese gar nicht mehr stattfindet, ist so stark geschrumpft wie das Bedürfnis der Bevölkerung in den Ballungsräumen, in ihrer Freizeit eine unberührte Natur zu erleben, gewachsen ist.

Folgt man der Definition der Weltnaturschutzunion, dann ist der Nationalpark das einzige Schweizer Wildnisgebiet – weil das Nationalparkgebiet jeglichem menschlichen Einfluss entzogen ist. Eine Studie von Mountain Wilderness Schweiz und der Eidg. Forschungsanstalt WSL hat gezeigt, dass rund 17 Prozent der Schweizer Landesfläche noch als wild bezeichnet werden können. Dabei wurde mangels „purer“ Wildnisflächen (was auch für den Nationalpark gilt, wo noch Mitte des 19. Jahrhunderts fast alle Waldflächen abgeholzt worden waren) die Qualität von Wildnisflächen unter anderem nach der Quantität des menschlichen Einflusses gemessen: Je weniger Menschen, desto mehr Wildnis. Daneben spielten Kriterien wie „Natürlichkeit“, „Abgeschiedenheit“ oder „Rauheit der Landschaft“ eine Rolle, und die Grösse: 500 Hektar galten als Mindestfläche. Es kann wenig überraschen, dass sich solch grosse Flächen fast auschliesslich im Alpenraum finden, die höchste Qualität wird dabei in vielen Fällen für den durchschnittlichen Wanderer im kaum erreichbaren Hochgebirge erreicht.

Wer in etwas kleinerem Massstab denkt, findet Wildnis aber auch vor der Haustür, „Wild Area“ werden nach der Definition der Wild Europe Initiative diese kleinen und kleinsten Flächen genannt, in denen natürliche Prozesse wie in den grossen „Wilderness Areas“ weitgehend ungestört ablaufen. Experten der Stiftung Landschaft Schweiz und der ETH haben mit „Tranquility“ – Flächen ein anderes Konzept vorgelegt und die Schweiz daraufhin nach „Ruhegebieten“ abgeklopft. Es sucht, subjektive Kriterien mit zu berücksichtigen. Dabei berücksichtigen sie neben der Naturnähe auch Faktoren wie Lärm oder – in der Nacht – Lichtbelästigung oder Verkehrslärm und kommen für das Schweizer Mittelland, wo es an grossen Wildnisflächen komplett fehlt, zu einer überraschenden Vielfalt an „Tranquility“-Gebieten, die sich nur zu einem sehr kleinen Teil mit Schutzgebieten oder den kleinen Wildnisflächen überschneiden, anderseits aber gerade dem Bedürfnis vieler Städterinnen und Städter, im Naherholungsgebiet auch zur Ruhe zu kommen, eher entsprechen. Und es zeigt auch, wie wichtig es im zersiedelten Raum ist, solche Oasen zu bewahren.

Wir möchten vor diesem Hintergrund mit dem Buch „Wildnis Schweiz“ ein etwas anderes Bild zeichnen, ein sehr vielfältiges, überraschendes, eines, das die Wildnis vor der Haustür ebenso beschreibt wie die spektakuläre, erhabene menschenleere Naturlandschaft, eines, das vor Augen führt, wie wertvoll jede noch so kleine Wildnis ist. Es gibt mehr davon, als man denken könnte. Und es ist, im Zeitalter des Anthropozäns, der Mensch, der über deren Schicksal entscheidet. Das Buch soll darauf aufmerksam machen, und dazu einladen, sowohl die Wildnis vor der Haustür im Mittelland als auch jene im Gebirge zu erkunden. Damit die Motivation wächst, sie zu erhalten.